Neue Sozialpolitik – neue Rolle für die GGL
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fanden Unfall, Krankheit, Alter oder Tod des Ernährers sowie Arbeitslosigkeit zunehmend Anerkennung als soziale Ursachen für Armut, bei denen die Betroffenen nicht mehr den oft erniedrigenden Bedingungen der Fürsorge unterworfen werden sollten. Da die meisten europäischen Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg soziale Konflikte wie 1917–19 vermeiden wollten, versprachen sie für die Friedenszeit weitgehende Reformen. Dies in besonderem Masse unter dem Eindruck der siegreichen Roten Armee der Sovietunion, die ab dem Winter 1941 begann, die deutschen und mit ihnen verbündeten europäischen Invasoren Richtung Westen zurückzudrängen. Am meisten Beachtung fand aus sozialpolitischer Sicht der britische Beveridge-Bericht, der 1943 in der Schweiz lebhaft diskutiert wurde. Er sprengte die alte Arbeiterschutz- und Sozialversicherungspolitik und strebte Verbesserungen für Benachteiligte aller Schichten an.[1] Der Begriff ‹Soziale Sicherheit› begann sich in der Schweiz zu verbreiten und mit ihm die Rolle und Aufgaben der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt Luzern (GGL) zu verändern.
Dreisäulenprinzip
Bereits unter dem Vollmachtenregime wurde für die Erwerbsersatzordnung Ende 1939 mit den Lohnprozenten und den Ausgleichskassen ein zukunftsweisendes System geschaffen. Nach dem Krieg wurde es in die AHV überführt. Mit dem entsprechenden Gesetz erhielt der Sozialstaat Ende 1946 seine zentrale Institution. Sie wurde in der Folge regelmässig verbessert und 1959 um die Invalidenversicherung und 1965 um die Ergänzungsleistungen für bedürftige Rentner erweitert. Aufgrund der späten Einführung der AHV und ihres anfänglich bescheidenen Umfangs behaupteten sich die betriebliche Pensionskassen weiterhin. Unter dem Druck einer Initiative für eine Volkspension wurden sie 1972 auf der Basis des Dreisäulenprinzips, das für die angemessene Existenzsicherung die AHV, die berufliche Vorsorge und die Selbstvorsorge vorsah, in der BV (Art. 34quater) verankert.
Der moderne Sozalstaat
Mit dem Landwirtschaftsgesetz von 1951 und weiteren Erlassen erhielten die Bauern Einkommensgarantien und Investitionshilfen. Die meisten Kantone erneuerten die Sozialhilfegesetze, wobei repressive Elemente abgebaut und vermehrt soziale Beratung angeboten wurde. Die Wohnungspolitik blieb weitgehend in kommunaler und kantonaler Kompetenz und eher in bescheidenem Rahmen (Wohnungsbau). Der Mieterschutz (Miete) beruhte hauptsächlich auf befristeten Erlassen. Mit der Verbreitung der GAV in der Exportindustrie sowie der seit 1941 (Bundesbeschluss) bzw. 1956 (Bundesgesetz) bestehenden Möglichkeit, diese allgemeinverbindlich zu erklären, gewann die paritätische Sozialpolitik an Bedeutung, konnten doch so auch Probleme geregelt werden, für die dem Staat die Kompetenzen fehlten (z.B. Mindestlöhne). Schliesslich löste das Arbeitsgesetz von 1964 das Fabrikgesetz und vier weitere Bundesgesetze sowie das gesamte kantonale Arbeitsschutzrecht ab und erfasste mit wenigen Ausnahmen (Landwirtschaft, Hausdienst, Heimarbeit, öffentlicher Verkehr) alle Erwerbszweige.
Auch im Gesundheits- und Bildungswesen sowie in der Regionalpolitik wurde die sozialpolitische Komponente stärker berücksichtigt. Weil aber die Kompetenzen hauptsächlich bei den Kantonen lagen, ergaben sich erhebliche regionale Unterschiede. Grundsätzlich fokussierte die S. der Nachkriegszeit nicht mehr auf die Arbeiterschaft, sondern auf die Ausschaltung von Risiken und den Abbau von Unterprivilegierungen in einer Konsumgesellschaft, die sich zur ‹nivellierten Mittelstandsgesellschaft› zu entwickeln schien. Wohlstandssicherung gewann gegenüber der Sicherung des sozialen Friedens zunehmend die Oberhand.[2]