Kriegswirren
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs verliessen 1914 nicht nur die Touristen, sondern auch Heerscharen von italienischen Bauarbeitern und deutschen Handwerkern Luzern. Hatten 1910 rund 18 Prozent der Bevölkerung einen ausländischen Pass, waren es 1920 nur noch gut 11 Prozent. Für die wehrfähigen Luzerner Männer begann im Sommer 1914 der Aktivdienst und das städtische Leben veränderte sich radikal. Das gewohnte soziale und kulturelle Leben kam zum Erliegen. Die Wirtschaft geriet ins Stocken, es wurde nicht mehr investiert und die Bauwirtschaft – zusammen mit dem Tourismus der wirtschaftliche Motor – kam zum völligen Stillstand. In den Kriegsjahren wurden so gut wie keine Wohnungen mehr gebaut, was die Wohnungsnot massiv verschärfte. Einige Hotels, wie etwa die Seeburg, nahmen in der Schweiz internierte deutsche, französische und englische Armeeangehörige auf, viele mussten jedoch vorübergehend oder dauerhaft schliessen. Die Einwohnergemeinde Luzern hatte bei Kriegsbeginn eine Million Franken Schulden und die Haushaltsrechnung war defizitär und die Stadt erhöhte bis 1921 in mehreren Schritten sowohl die Steuern als die Abgaben und Gebühren.[1]
Massenelend
Mit fortschreitendem Krieg dramatisierte sich der wirtschaftliche und soziale Ausnahmezustand. Im Winter 1917 steuerte die Schweiz auf eine nationale Ernährungskrise zu. Die inländische Nahrungsmittelproduktion sank nach der schlechten Ernte 1916 und der U-Boot-Krieg im Atlantik verunmöglichte den Import von Getreide aus den USA. Das traf die importabhängige Schweiz empfindlich. Die seit Kriegsbeginn spürbare Teuerung steigerte sich rasant und führte zu einer Massenverarmung. Im März 1917 erliess der Bund improvisierte Vorschriften zur Rationierung und ersetzte sie ein paar Monate später durch Höchstpreisregelungen.
Ab Dezember 1916 gab die Stadt Luzern im Rahmen von Notstandsaktionen Milch und Brot verbilligt ab. 1917 und 1918 waren gegen 28 Prozent der Bevölkerung darauf angewiesen. Mit rigorosen Kontrollen wurde zudem versucht, den Wucher bei Butter- und Käseverkäufen zu verhindern und auch dafür, dass Eier-Grosshändler nicht ihre gesamte Ware nach Zürich lieferten, wo sie höhere Preise erzielten. Auch die Wohnungsmieten stiegen während den Kriegsjahren ins Astronomische. Der Staat war jedoch überfordert.[2] Besonders wichtig waren in dieser Lage private Hilfsinitiativen und Unterstützungen, wie die der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt Luzern (GGL).
Doch das war alles nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Der Verdienstausfall der Aktivdienst leistenden Soldaten ging fast vollständig zu Lasten der Familien, ein Lohnersatz war noch nicht sozialstaatlicher Standard. Die in Luzern notorisch tiefen Löhne wurden teils noch gekürzt und die Arbeitslosigkeit stieg. Derweilen profitierten lokale Grossarbeitgeber wie Schindler und andere bedeutende Industriefirmen von der Kriegskonjunktur – namentlich durch Lieferung von Munitionsbestandteilen. Gewinne und firmeninterne Rückstellungen waren beträchtlich und die Dividenden erreichten Werte bis zu zehn Prozent. Das entging der Öffentlichkeit nicht.[3]
Vom Generalstreik zur Fasnacht
In der Arbeiterschaft wuchs das Gefühl, schlecht behandelt und benachteiligt zu werden. Ab Februar 1916 verzeichneten sozialistisch geprägte Arbeiterorganisationen starken Zulauf. Die Sozialdemokratische Partei erlebte einen Linksrutsch und spaltete sich von den gemässigten Grütlianern ab. Im April 1917 spitzte sich die Lage zu: Kurz nachdem der Bund Preiserhöhungen für Milch und Butter angekündigt hatte, der Luzerner Stadtrat auf einer geplanten Steuererhöhung beharrte und Schindler eine Lohnreduktion ankündigte, lief das Fass über. Die 1’000-köpfige Schindler-Belegschaft trat in den Streik. Der Burgfrieden, das heisst das angesichts der nationalen Bedrohungslage bei Kriegsbeginn vereinbarte Stillhalten der Linken, war damit in Luzern aufgekündigt. Im August 1917 folgte die Luzerner Arbeiterschaft zu Tausenden dem Aufruf zu einer Kundgebung gegen die Teuerung. Der Vertrauensverlust weiter Teile der Bevölkerung gegenüber dem Staat, den sich bereichernden gesellschaftlichen Eliten und den preistreibenden Bauern war weit fortgeschritten.[4]
Ab April 1918 wurde das auf nationaler Ebene virulente Thema ‹Generalstreik› auch in Luzern in zustimmendem Sinne diskutiert. Vorerst blieb die Lage jedoch ruhig. Das Verbot der geplanten Feierlichkeiten zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution von 1917 und das voreilige Truppenaufgebot in Zürich im November provozierten jedoch dann einen landesweiten Generalstreik, der in allen grösseren Städten – auch in Luzern – befolgt wurde. Mit Ausnahme der Schappe-Fabrik in Kriens wurden alle Fabriken der Region Luzern drei Tage lang bestreikt. Auch viele private Geschäfte blieben geschlossen und die Post wurde nicht ausgetragen, was sonst nur noch in Zürich der Fall war. Am Morgen des ersten Streiktages wurde der Trambetrieb nach Emmenbrücke zum Erliegen gebracht. Am Nachmittag liess der Regierungsrat mit Maschinengewehren bewaffnete Truppen auf der Pilatusstrasse in Luzern aufmarschieren, zog sie aber nach einer Unterredung mit der Streikführung rasch wieder ab. Einflussreiche Unternehmer kritisierten das lasche Vorgehen des militärischen Platzkommandanten und sorgten für dessen rasche Ersetzung. Am zweiten Streiktag griffen die Ordnungstruppen dann härter durch.[5]
Der Landesstreik stürzte die ganze Schweiz in eine politische Krise. Es kam zu einer harten Front und Blockbildung zwischen Bürgerlichen und Linken. In Luzern begann die Polarisierung bereits während der Streiktage. Der Gewerbeverband, unterstützt von Industriellen, rief zur Bildung von Bürgerwehren auf. Die Kantonsregierung unterstützte dies, indem sie Bürgerwehr-Aktivisten gegen Unfall und Haftpflicht versicherte und ihnen die Ausrüstung zur Verfügung stellte. Das im Herbst 1918 mit grossem Mehr angenommene Proporzwahlsystem veränderte die politischen Verhältnisse im Stadtparlament. Die Liberalen verloren 1919 die absolute Mehrheit. Zusammen mit den Konservativen konnten sie als Bürgerblock zwar die Führung wahren, doch die Sozialdemokraten verdoppelten ihre Mandate und mutierten vom Juniorpartner zu einer ernst zu nehmenden politischen Grösse. Allerdings erlebte auch die Luzerner Linke die internationale Spaltung in ein sozialdemokratisches und ein kommunistisches Lager. 1921 wurde eine Sektion der Kommunistischen Partei der Schweiz in Luzern gegründet. Nach dem Krieg gewann erstmals auch die christlich-soziale Bewegung politisches Gewicht. Als Gegenspielerin der linken Gewerkschaften dynamisierte sie das Verhältnis von Konservativen und Liberalen. Die schwache Konjunktur der Nachkriegsjahre sorge dafür, dass die politischen Spannungen aufrecht erhalten blieben. 1924 war dann das Jahr, in dem der wirtschaftliche Aufschwung einsetzte. Das verlockte zu neuem gesellschaftlichen Leben. Ein deutliches Zeichen des allmählichen Übergangs in eine neue Zeit war die Wiederbelebung der Fasnacht.[6]