Boom und neue Armut
Neben dem reichen, erfolgsverwöhnten und modernen Luzern gab es ein notleidendes, armes Luzern. Der Wirtschaftsboom in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam nicht allen gleichermassen zugute. Armut hatte ein neues Gesicht. Viele Beschäftigte in Hotellerie, Gastgewerbe und den touristischen Nebengewerben waren schlecht bezahlt, unqualifiziert und oft nur saisonal beschäftigt. Aufstiegschancen hatten nur Einzelne. Soziale Absicherungen fehlten weitgehend. Frauen, die einen grossen Teil des Hotelpersonals stellten, waren davon besonders betroffen. Nicht viel besser ging es einfachen Handwerkern, die oft ein armseliges Leben führten. Das Sozialwesen der Stadt Luzern war gefordert. Anders als Wirtschaft und Verkehr war es seit dem frühen 19. Jahrhundert kaum ausgebaut worden und hinkte der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Vor der Einführung von Sozialversicherungen und sozialstaatlichen Einrichtungen im Laufe des 20. Jahrhunderts lasteten soziale Aufgaben stark auf Städten und Gemeinden. Zuständig für die soziale Unterstützung aus öffentlichen Mitteln waren die (Orts-)Bürgergemeinden. Die zunehmende Mobilität hatte jedoch dazu geführt, dass nur noch die wenigsten dort lebten, wo sie das Bürgerrecht besassen.[1]
Soziale Hilfe als Bürgerpflicht
Die Frage der Unterstützungspflicht und die Armutsbekämpfung beschäftigten republikanisch-gemeinnützige Kreise in der Schweiz seit 1800. Neben der Förderung der Bildung und Erziehung war unbestritten, dass soziale Hilfe auch eine private Bürgerpflicht sei. So wurden auch in Luzern 1812 eine ‹Hülfsgesellschaft› und eine erste Gemeinnützige Gesellschaft gegründet. Als die Stadt Luzern 1850 eine erste massive Zuwanderungswelle verarmter Landleute erlebte, gründeten diese Kreise 1854 den ersten privaten Armenverein der Stadt Luzern, der ausschliesslich Zuwanderer unterstützte. Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre plante die liberal ausgerichtete (neue) Gemeinnützige Gesellschaft der Stadt Luzern (GGL) einen neuen, breit abgestützten Armenverein. Wegen des tobenden Kulturkampfes kam die Gründung aber erst 1818 zustande. Generell hatte soziale Unterstützung den Charakter eines Almosens und nicht den eines Anrechts und war mit moralischer Kontrolle und Diskriminierung verbunden. Wer armengenössig wurde, verlor das Stimm- und Wahlrecht – eine Bestimmung, die noch bis 1935 in Kraft blieb. Viele Armutsbetroffene setzten darum alles daran, nicht öffentlich unterstützt zu werden.[2]